Zu Hause in Europa
Wir waren diesen Sommer im Urlaub in England. Mit dem Gefühl, dass man schnell noch die europäische Reisefreiheit genießen sollte, bevor der Brexit kommt.
Nun verlässt man auf dem Weg nach England zwar nicht Europa und (noch) nicht die EU, wohl aber das europäische Festland. Und durch die Abfertigung an der Fähre bekommt man schon einen ziemlich eindrücklichen Vorgeschmack darauf, was der Brexit bedeuten wird. Für die letzten 500 Meter vor der Schiffsrampe haben wir nämlich über 90 Minuten gebraucht – und das lag in allererster Linie daran, dass hier von Reisefreiheit schon jetzt nicht viel zu spüren ist, und dass England ganz offensichtlich nicht jeden hineinlassen will. Gleich dreimal will man Pässe und Ausweise sehen und jeder Reisende wird sorgfältig unter die Lupe genommen – ob er auch wirklich zum Passfoto passt. Dass es dabei tatsächlich ums Reinlassen geht, merkt man nicht nur daran, dass der englische Grenzbeamte deutlich sorgfältiger prüft als der französische, sondern auch an der Tatsache, dass auf der Rückreise, beim Verlassen Englands, kaum noch ein Blick ins Auto geworfen wird.
Das erhellendste Gefühl hatte ich aber beim Verlassen der Fähre auf dem Rückweg. Denn nach zwei Wochen „Insel“ wieder in Frankreich angekommen fühlte ich mich plötzlich wie zu Hause. Ob das am Wegfallen des ungewohnten Linksverkehrs lag, an der Tatsache, dass wir im Supermarché plötzlich wieder mit Euro einkaufen konnten, oder an dem Wissen, dass zwischen hier und zu Hause keine Grenzkontrollen mehr zu erwarten waren, völlig egal – wir fühlten uns zu Hause, allesamt.
Zu Hause in Europa.
Mir hat dieser Moment wieder glasklar vor Augen geführt, welches Geschenk Europa ist. Eine gemeinsame Währung. Grenzenloses Reisen. Grenzenloses Einkaufen. Die Möglichkeit, jederzeit in ein anderes Land zu ziehen. Und das alles gespickt mit so vielen kleinen, feinen Unterschieden.
Europa ist ein Geschenk. Mit all seinen Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Klick um zu TweetenIn Frankreich angekommen, nach der Fähre, habe ich mich zu Hause gefühlt. Aber ich habe auch die Tatsache genossen, eben noch nicht in Deutschland zu sein. Ich fand es wunderbar, im Supermarkt köstliche Éclairs einkaufen zu können, und das Baguette, das so ganz anders riecht als in Deutschland. Natürlich habe ich mich auch über die Gelegenheit gefreut, Französisch sprechen zu können, und seien es nur zwei Sätze mit der Kassiererin. Und von meiner Lieblings-Bodylotion, die es nur in Frankreich gibt, habe ich auch wieder Nachschub mitgenommen.
In die kleinen Unterschiede zwischen Frankreich, Deutschland, Spanien, Italien, den Niederlanden, Polen oder Kroatien, in die kann man sich verlieben. Und man kann sie viel mehr als liebenswerte Eigenarten wahrnehmen, wenn man gleichzeitig so viel gemeinsam hat.
Irgendwie haben wir es aber verlernt, die Vorteile, die das mit sich bringt, als das Geschenk zu schätzen, was sie sind.
Bono schrieb vor kurzem in einem Gastbeitrag für die FAZ, dass es „in der Geschichte der Menschheit nie eine bessere Zeit oder einen besseren Ort gegeben hat, um auf die Welt zu kommen, als Europa während der vergangenen 50 Jahre“. Und damit hat er mehr als recht. Noch nie hat in Europa so lange Frieden geherrscht wie in den vergangenen Jahrzehnten. Aber das Bewusstsein für dieses Privileg – wo ist das hin? War das je da? Haben wir je begriffen, wie gut es uns geht als Europäer? Was wir für ein Glück haben, zu dieser Zeit in diesem friedlichen Europa leben zu können? Und dass Europa so viel mehr ist als eine häufig vielleicht etwas behäbige und auch manchmal unbequeme Behörde.
Haben wir je begriffen, was für ein Glück wir haben, zu dieser Zeit in Europa leben zu dürfen? Klick um zu TweetenEuropa als ein Konzept der Gemeinschaft, nicht der Abgrenzung
Ja, ich bin überzeugte Europäerin. Allerdings nur so lange, wie Europa als ein Konzept der Gemeinschaft und nicht als eines der Abgrenzung verstanden wird. Die „Festung Europa“, die gegen Angriffe von denen „da draußen“ verteidigt werden muss, das ist nicht mein Europa. Mein Europa, das ist eine Gemeinschaft voller Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Mein Europa, das ist die Erkenntnis, dass wir gemeinsam stark sind. Mein Europa ist ein Europa in der Welt, nicht ein Europa gegen die Welt. Mein Europa bedeutet Solidarität, Toleranz und Miteinander.
Mein Europa ist ein Konzept der Gemeinschaft. Ein Europa in der Welt - nicht gegen die Welt. Klick um zu TweetenMit solchen Gedanken bin ich aus dem Urlaub gekommen. Und dann kam Chemnitz.
Die Bilder von rechten Hetzjagden, offen zur Schau getragenen Nazi-Gesten und jeder Menge Hass haben nicht nur mich schwer erschüttert. Und am liebsten würde ich gar nicht viele Worte dazu verlieren, weil mir eigentlich die Worte fehlen. Dabei ist es so wichtig, Worte zu finden, um gegen den Hass anzureden.
Was mich auch nach den Bildern aus Chemnitz ein bisschen tröstet, ist deshalb das Wissen, dass ich mit meinem Konzept von Europa nicht alleine bin. Und dass auch schon viele andere sehr kluge Worte dazu gefunden haben.
Ich bin nicht alleine, wenn ich es ablehne, dass Europa sich abschottet gegenüber Menschen, die in ihrer Heimat keine Zukunft haben. Oft genug aus Gründen, für die Europa maßgeblich mitverantwortlich ist.
Ich lehne es ab, dass Europa sich abschottet gegen Menschen, die in ihrer Heimat keine Zukunft mehr haben. Oft genug aus Gründen, die Europa mitzuverantworten hat. Klick um zu TweetenIch bin nicht alleine mit der Überzeugung, dass wir mit Solidarität, Mitgefühl und gemeinsamem Handeln weiter kommen als mit Abgrenzung und Hass. Und es ist ja nicht so, als hätten wir als Erde nicht genügend Herausforderungen gemeinsam zu stemmen. Angefangen mit der Klimakrise, die im Unterschied zur vielzitierten „Flüchtlingskrise“ im Übrigen wirklich eine echte Krise ist.
Ich bin nicht alleine damit, ganz im Gegenteil – ich bin sogar überzeugt davon, dass wir die Mehrheit sind. Nur leider eine, die man nicht so wahrnimmt. Und das muss sich ändern. Unbedingt. Dass das immer mehr Menschen bewusst wird, hat man gestern abend in Chemnitz gesehen. Dort kamen satte 65.000 Menschen aus ganz Deutschland unter dem Motto #wirsindmehr zu einem Konzert gegen Rechts zusammen, um zu zeigen, dass dieses Land nicht dem Hass gehört. Ein tröstendes Bild. Aber lange nicht genug.
Um uns gegenseitig und auch allen anderen zu zeigen, dass wir, die wir für Solidarität, Menschlichkeit und Miteinander sind, die Mehrheit sind, müssen wir alle noch viel lauter werden. Und vor allem auch laut bleiben. Einmal auf einer Demo gewesen zu sein, ist super. Es reicht aber nicht.
Auf die Straße gehen, Position beziehen, Flagge zeigen und gegen Hass und Ausgrenzung den Mund aufmachen. #wirsindmehr Klick um zu TweetenWas wir tun können?
Auf die Straße gehen und Flagge zeigen – gegen Rechts, für Solidarität mit in Seenot geratenen Flüchtlingen, für ein friedliches Miteinander oder auch ganz explizit für Europa.
Oder auch online Farbe bekennen, aufstehen und den Mund aufmachen. Beispielsweise in der Aktion auchdasvolk.de. [Edit: Das Projekt ist zwischenzeitlich leider offline gegangen. Es gibt aber noch jede Menge andere Möglichkeiten, sich ganz klar gegen Rechts zu positionieren und für Solidarität und Menschlichkeit Stellung zu beziehen.]
Gegen Hasskommentare im Internet ankommentieren, immer und immer wieder. Mit #ichbinhier zum Beispiel.
Die Zeit, in der wir sitzenbleiben, die Klappe halten und hoffen konnten, dass Europa sich schon wieder bekrabbeln wird, ist lange vorbei. Es ist allerhöchste Zeit, laut zu werden. Für Frieden. Für Solidarität. Für Menschlichkeit. Und natürlich für Europa – und die Welt.
KF/ciq
Ihr hattet an dieser Stelle einen Artikel zu Content Marketing, Internationalisierung oder zur DSGVO erwartet? Der wäre eigentlich nach der Sommerpause auch dringend wieder drangewesen. Aber dafür ist auch in den nächsten Wochen noch genügend Zeit – im Moment gibt es Wichtigeres. #wirsindmehr #auchdasvolk #ichbinhier
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