Der Supermarkt der Zukunft - aber nur im Schneckentempo

Von Sensoren, Schneckentempo und dem Supermarkt der Zukunft

Montag ist Kolumnentag. Ab sofort gibt es im contentIQ-Blog nicht jeden Montag, aber immer montags laut gedachte Gedanken rund um Web, IT, eCommerce oder digitale Bildung. #digitalnotizen
Wie amazon uns das Schlangestehen abgewöhnen will

Kennt ihr das? Ihr wollt nur mal schnell einen Smoothie für die Mittagspause holen – und steht erstmal eine Viertelstunde in der Schlange an der Kasse an. Ärgerlich, oder? Diese verlorene Zeit! Wäre es nicht viel praktischer, man könnte einfach den Smoothie aus dem Regal nehmen und wieder gehen? Und irgendwer irgendwo würde trotzdem wissen, was wir eingekauft haben und die Kosten einfach von unserem Konto abbuchen?

Amazon will diese Vision Realität werden lassen und testet das Ganze derzeit in Seattle mit einem Convenience Store namens amazon go. Unter dem Motto „Just walk out“ kann man dort nach genau diesem Prinzip einkaufen: Hineingehen (dabei am Eingang mit der entsprechenden App registrieren), Einkäufe in die Tasche stecken und wieder rausgehen. Ohne Anstehen, ohne Kasse, ohne Selberscannen unter der Aufsicht einer schlüsselrasselnden Mitarbeiterin – „Just Walk Out“. Der erste Test-Shop sollte Anfang 2017 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, nun kam aber die Meldung, der Start werde erst einmal verschoben. Und die Gründe dafür zeigen auf alarmierende Weise auf, wie komplex und störungsanfällig das dahinterstehende System ist.

Die Tests mit amazon-Mitarbeitern haben nämlich gezeigt: Das System funktioniert nur, wenn maximal 20 Kunden im Laden sind. Und diese sich möglichst langsam bewegen.

Im Schneckentempo durch den Supermarkt der Zukunft? #amazongo Klick um zu Tweeten

Ja, ihr habt richtig gelesen: Sich langsam bewegen. Ich musste so laut lachen, als ich das gelesen habe, dass ich sofort wusste: Das wird mein erstes Kolumnenthema. Denn die Vorstellung ist einfach zu gut. Amazon entwickelt in (bislang) vier Jahre langer Arbeit einen Shop, der unserem Wunsch nach Bequemlichkeit und vor allem Zeitersparnis entgegenkommen soll. Im Video macht das wirklich einen sehr gechillten Eindruck. Die Realität sieht aber derzeit so aus, dass man sich durch den Supermarkt der Zukunft nur im Schneckentempo bewegen kann – und vielleicht nicht an der Kasse, dafür aber am Eingang anstehen muss, damit er nicht zu voll wird und die vielen Kameras den Überblick verlieren. Schon irgendwie amüsant.

Schlange stehen am Eingang statt an der Kasse? #amazongo Klick um zu Tweeten

Der Supermarkt der Zukunft - aber nur im Schneckentempo

Im Schneckentempo durch den Supermarkt der Zukunft? | Foto: Mike Flinzner, www.flinzner.de

Die Technologie hinter amazon go basiert nämlich auf jeder Menge Sensoren und Kameras – „Sensor Fusion Technology“ und „Computer Vision“ nennt amazon das –, vermutlich gekoppelt mit reichlich RFID, und hat ihre Ursprünge in der Entwicklung selbstfahrender Autos. (Die ja übrigens auch noch nicht wirklich serienreif sind, nur mal so am Rande.) Die Kameras merken sich also, welche Kunden zu welcher App-Registrierung gehören und beobachten sie bei ihrem Weg durch den Markt. Dabei erfassen die digitalen Augen im Übrigen naturgemäß nicht nur, was aus den Regalen genommen – oder wieder zurückgestellt wird – sondern auch, welche Wege wir nehmen, wo wir stehenbleiben und welche Produkte wir uns genauer anschauen. Daten, die jedem Marktforscher Freudentränen in die Augen treiben dürften. Dauerüberwachung im Supermarkt also – und das vom Kunden mehr oder weniger bewusst für mehr Bequemlichkeit so gewollt.

Man kann sich durchaus vorstellen, dass das in einem prall gefüllten Laden zu Verwirrung führen kann. Und dass es jede Menge Situationen gibt, die dem Überwachungssystem einiges an Flexibilität abverlangen. Was zum Beispiel, wenn ich das Thunfisch-Sandwich aus dem Regal nehme, um es meiner Freundin zu geben, weil ich weiß, dass sie das jeden Mittag kauft? Bei wem landet das Sandwich dann auf der Einkaufsliste? Oder wenn ich es nicht an den gewohnten Platz, sondern irgendwo im Laden wieder ablege, weil ich keine Lust habe, wieder zurückzulaufen? Von gestohlenen Smartphones, gehackten Accounts oder Internetverbindungsschwierigkeiten mal ganz abgesehen.

Wer bezahlt das Sandwich? Immer der, der es aus dem Regal nimmt? #amazongo Klick um zu Tweeten

Natürlich, ausgefeilte Technologie braucht Zeit, und sicherlich traue ich amazon genügend Duchhaltevermögen zu, um die bisherigen Kinderkrankheiten des Supermarkts der Zukunft in den Griff zu bekommen und auch für die komplexeren Fälle Lösungen zu finden. Und auch wenn amazon Gerüchte zurückgewiesen hat, man wolle kurzfristig 2000 „Just Walk Out“-Stores eröffnen – kleine Brötchen backt das Unternehmen aus Seattle für gewöhnlich nicht. Man kann sich auch bereits vorstellen, dass das ganz große Geld im Zweifel woanders wartet, denn wenn der Druck durch die eigenen Läden erstmal aufgebaut ist, wird man sich die viele Arbeit bestimmt gerne in Form von Lizenzmodellen von den Mitbewerbern vergolden lassen.

An der vielbeschworenen „disruptiven“ Kraft dieser Supermärkte der Zukunft ist also sicherlich was dran, vermutlich wird es aber noch eine ganze Weile dauern, bis sie ihr vollständiges Potenzial entfaltet. Aber mangelnde Geduld gehörte bislang noch nicht zu amazons hervorstechendsten Eigenschaften.

Übrigens: Muss das Anstehen an der Supermarktkasse zwangsläufig verlorene Zeit sein? Man kann dabei wunderbar andere Menschen beobachten und vielleicht ein paar freundliche Worte wechseln. Das kann richtig gut tun: Soziale Isolation ist schließlich eines der größten Gesundheitsrisiken unserer Zeit. Und meine Kollegin Christa Goede hat sogar schon mal an der Supermarktkasse eine spannende Kundin gewonnen. Vielleicht sind die guten alten KassiererInnen ja doch eine Alternative zum gläsernen Einkauf?

KF/ciq

Dr. Katja Flinzner
2 Kommentare
  1. Julia
    Julia sagte:

    Liebe Katja,
    Glückwunsch zur neuen Serie im Blog!
    Im Schneckentempo durch den Supermarkt wäre nun auch so gar nicht mein Ding! Viel eher das Schwätzchen in der Kassenschlange. Das geht ja vor allem hier in Bonn und dem Rheinland sehr gut. In anderen Gegenden Deutschlands wurde allerdings schon gestaunt, wenn ich ein kurzes unverfängliches Gespräch beim Warten anfing…
    Viel Spaß weiterhin mit deiner Kolumne wünscht
    Julia

    Antworten
  2. Dr. Katja Flinzner
    Dr. Katja Flinzner sagte:

    Liebe Julia,

    vielen lieben Dank – und ja, das ist wohl wahr – das Schwätzchen in der Kassenschlange funktioniert nicht überall…

    Liebe Grüße
    Katja

    Antworten

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